BGH/LG Marburg: Versuchter Mord entpuppt sich nach langem Kampf als Körperverletzungsdelikt

Dieser Fall beschäftigt die Königsblaue Hilfe e. V. inzwischen schon seit zwei Jahren. Folgendes war geschehen: Im Sommer 2017 geraten mehrere Jugendliche auf einem hessischen Dorffest aneinander, im Rahmen einer Schlägerei verletzt sich ein Beteiligter schwer. Hinterher stellt sich heraus, dass es sich bei den an der Schlägerei Beteiligten um Fußballfans rivalisierender Vereine handelt, nämlich um Schalker und Dortmunder.

Sehr bald wird das Ermittlungsverfahren von einem Körperverletzungsdelikt zu einem versuchten Mordfall hochgestuft: Zwei Schalker werden in den frühen Morgenstunden von der Polizei festgenommen. Unser Mitglied wird aus dem Elternhaus abgeführt und in Untersuchungshaft genommen. Der Schalker wird die nächsten zwei Jahre (!) in Untersuchungshaft sitzen.

Im Frühjahr 2018 kommt es zur ersten Hauptverhandlung am Landgericht Marburg, der Vorwurf: Versuchter Mord. Für die Staatsanwaltschaft steht fest, dass die beiden Schalker – auf einem Dorffest in Hessen befindlich – aus sonst niederen Beweggründen einen anderen Menschen töten wollten. Konkret sei es der absolute Vernichtungswille wegen der Zugehörigkeit zu einem rivalisierenden Verein gewesen, der zu dieser absurden Anklage führte.

Nach einigen Hauptverhandlungsterminen will die Staatsanwaltschaft bei unserem Mitglied jedoch auch nicht mehr auf dem Mordvorwurf beharren. Sie beantragt „nur noch“ eine Strafe wegen Körperverletzungsdelikten. Das Gericht wird sich daran nicht halten, sondern beide Angeklagten gleichermaßen nach Jugendstrafrecht wegen versuchten Mordes zu langjährigen Haftstrafen verurteilen.

Dagegen wehren sich die beiden Schalker, einer davon mit tatkräftiger Unterstützung der KBH. Rechtsanwalt Thomas Wings und Rechtsanwalt Christopher H. P. Haas legten gegen das Urteil für unser Mitglied Revision ein.

Im Januar 2019 war es dann so weit: Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe verhandelt in dem versuchten Mord, der offensichtlich gar keiner ist. Die Staatsanwaltschaft, die sich sonst gerne als objektivste Behörde der Welt betitelt – was bei Fußballfans den Strafverteidigern gleichermaßen regelmäßig zu großem Gelächter führt – sieht die Sache nun plötzlich ganz anders als noch kurz zuvor und liefert natürlich erwartbar keinerlei Rückendeckung. Das Urteil sei schon ganz richtig und eigentlich noch viel zu milde. Ganz im Gegensatz zum Vortrag der Staatsanwaltschaft im Verfahren, in dem sie eben keinen versuchten Mord mehr erkennen konnte.

Der BGH verkündet im Frühjahr 2019 sein Urteil, und hebt das vor Fehlern nur so strotzende Mordurteil des LG Marburg in vollem Umfang auf: Setzen, sechs. Das ganze Verfahren muss wiederholt werden, nichts konnte stehen bleiben. Höchststrafe für die große Jugendkammer.

Indes fühlt sich dennoch niemand berufen, angesichts dieser schallenden Ohrfeige des BGH die inzwischen seit über anderthalb Jahren in Untersuchungshaft befindlichen Schalker aus dem Knast zu holen. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main und die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt sind sich einig, dass das schon alles seine Richtigkeit habe, dem BGH-Urteil zum Trotz.

Im Spätsommer 2019 verhandelt eine andere Kammer des LG Marburg die ganze Sache erneut. Wieder müssen alle Zeugen erneut aussagen, und erneut wird ein Urteil gefällt: Beide Schalker werden „nur noch“ wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt – und nach über zwei Jahren in Untersuchungshaft endlich aus der Haft entlassen. Ein überfälliger und hart erkämpfter Sieg.

Leider ist das letzte Kapitel in dieser Geschichte aber wohl noch nicht geschrieben. Die gleiche Staatsanwaltschaft, die im ersten Verfahren noch auf Körperverletzungsdelikte plädiert hat, hat Blut geleckt und erneut Revision eingelegt – damit die Schalker härter bestraft werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Staatsanwaltschaft die Revision nach Bekanntgabe der schriftlichen Urteilsgründe tatsächlich aufrechterhält. Immerhin sind die beiden Schalker nun auf freiem Fuß.

Die KBH ist der Meinung, dass das erste Verfahren zu einem atemberaubenden Fehlurteil geführt hat. Mord ist nach unseren Gesetzen eine Tötung auf moralisch tiefster Stufe und stellt ein noch größeres Unrecht dar, als es ein Totschlag täte. Hier wurden zwei heranwachsende Fußballfans nach einer Kirmesschlägerei auf eine Stufe mit Schwerverbrechern gestellt und für Jahre in Untersuchungshaft genommen. Es kann und darf nicht sein, dass für Fußballfans ein Sonderstrafrecht gilt. Wir erleben es täglich in den Gerichtssälen in der ganzen Republik: Vergehen, die bei jedem anderen Angeklagten wegen Geringfügigkeit eingestellt werden würden, werden bei angeklagten Fußballfans mit deftigem Strafaufschlag abgeurteilt. Dies ist eine bedenkliche Entwicklung, die der Justiz in diesem Land nicht gut zu Gesicht steht.

Quelle: BGH, Urteil vom 24. April 2019, Aktenzeichen 2 StR 377/18, veröffentlicht hier: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&az=2 StR 377/18&nr=96115